Wieder einmal lese ich meine mehrteilige Blog-Serie über unseren langen Weg zu einer agilen Organisation durch. Der Bewegrund dazu war, dass ich mir in Erinnerung rufen wollte, was eigentlich das ursprüngliche Ziel unserer Reise war, was wir erlebt habe und wo wir heute sind.
Ja, ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal meine Gefühle und Erfahrungen zu unserer laufenden Transformation niedergeschrieben habe. In der Zwischenzeit konnte ich auf dem erlebnisreichen Weg viele, neue Erkenntnisse gewinnen.
Nachdem im Sommer 2019 alle Rollen und Kreise überführt und die neuen Meetings etabliert waren, entwickelt sich ein abwärts Strudel hinsichtlich der Stimmung im Unternehmen.
Eigentlich hatten wir ja jetzt ein neues System, das jedem Mitarbeitenden Möglichkeiten bot, alles so zu verändern und anzupassen, damit sein Arbeitsgebiet optimal gestaltet ist. Warum also kommt Frust und schlechte Stimmung hoch, wenn doch alles selbst verändert werden kann?
Naja, meist ist es gar nicht so einfach, alle unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. In der Holokratie wird das jedem einzelnen Mitarbeitenden sehr schnell bewusst. Der optimale Weg ist leider nicht für alle der gleiche.
Einige Streitgespräche entflammten, und Fronten entstanden, die sich verhärteten. Hilflosigkeit und Orientierungsschwierigkeit im neuen System verunsicherte viele Mitarbeitende. Versuche, unsere Organisation zu optimieren, führten zu einem Scherbenhaufen für den Spannungsträger, so dass sich fast niemand mehr an komplexere Veränderungen wagen wollte.
Verständlicherweise kommt man da als Mitarbeitender schnell zum Schluss, dass das System nicht funktioniert. Man fühlt sich allein gelassen, da man selbst in der Pflicht ist, das zu verbessern, was einem stört, aber auch noch keine Erfahrung hat, wie man das richtig anpacken soll. Frust, Unzufriedenheit oder Resignation waren nachvollziehbare Folgen.
Kommt dazu, dass die regelmässigen Meetings sehr strikt geführt (facilitiert) werden und absolut kein Platz für längere Diskussionen lassen. Schon gar nicht zum Thema «wie gehe ich mit diesem System um» oder «wie fühle ich mich als Akteur darin».
Ich fühlte förmlich, dass eine Zeitbombe tickte - einmal mehr schlaflose Nächte!
Mein Plan: ein informeller Austausch musste etabliert werden. Ein unkompliziertes Austauschformat, um seinem Frust zu platzieren, die Meinungen seiner Kollegen einzuholen, gemeinsame Kompromisse zu schmieden oder einfach auch nur erkennen, dass man sich nicht als einziger hilflos in diesem neuen System fühlt.
Und los geht’s: Es galt, passende Gruppen zusammenstellen und zu hoffen, dass sich die Mitarbeitenden auf einen Austausch einlassen. Nun noch die richtigen Worte finden, damit ein solcher Austausch realisiert werden kann:
«Aktuell haben wir bei Nexplore so einige Baustellen wie: nicht optimale Teamkonstellationen, örtlich getrennte Projektteams, nicht zufriedenstellende Einsatzplanung, Zeit fressende und nervenaufreibende Holacracy Einführung, holprige Zusammenarbeit mit Externen, Standardisierung des Entwicklungsprozesses, neue Tools, gröbere Änderungen in der Infrastruktur, permanente Überlast einzelner Mitarbeiter und und und….
Ich habe aktuell das Gefühl, dass aus eurer Sicht bei Nexplore so einiges "läuft" bzw. "nicht läuft" was bei euch verständlicherweise zu Frust und Unzufriedenheit führt. Das beschäftigt mich aktuell stark und ich fühle mich hier zugegebenermassen etwas hilflos. Zuwarten und hoffen ist aus meiner Sicht die schlechteste Wahl. Daher starte ich hier einen Versuch:
Mich würde es sehr freuen, wenn wir uns einmalig (oder noch besser regelmässig) an einem Abend zu einem Bier oder sonst was Trinkbarem treffen und zusammen diskutieren und Lösungen finden könnten. Mir ist es ein grosses Anliegen, mit euch zusammen herauszufinden, ob und was wir gemeinsam bewirken können, damit wir alle wieder mehr Spass an der Arbeit habt.
Was hältst du von einem gemeinsamen, ehrlichen Austausch in dieser Gruppe? Bist du dabei?
Ihr alle liegt mir am Herzen und seid mir wichtig. Nicht einfach nur als Mitarbeitende, sondern noch viel mehr als Menschen, Arbeitskollegen und Freunde. Umso mehr wäre es schön, wenn wir gemeinsam eine Verbesserung erreichen könnten.»
Jetzt galt es abzuwarten und zu hoffen.
Einmal mehr stellte ich äusserst dankbar fest, dass trotz Frust, Ärger und Resignation jeder angeschriebene Mitarbeitende bereit war aktiv mitzuhelfen, die Situation zu verbessern.
Im Wochentakt fanden etliche Abendtermine in unterschiedlichen Gruppenzusammenstellungen statt. An jedem Austausch sind gemeinsame Lösungsansätze für kleinere und grössere Probleme geschmiedet, das gegenseitige Verständnis gefördert und im besten Fall auch neue Kraft und Mut getankt worden. Alles, was in diesen Gesprächen informell diskutiert worden ist, fand früher oder später über unsere formellen Meetings den offiziellen Weg in unsere Organisation. Wichtig dabei war sicher auch, dass die Änderungen nicht von mir als «Ex-Chef», sondern von den echten Spannungsträgern offizialisiert in unsere Hola Meetings getragen worden ist.
Ich kann nicht behaupten, dass durch die informellen Meetings jeder Mitarbeitende restlos von seinem Frust und Resignation befreit werden konnte und seither nur noch glücklich ist.
Ich denke, dass dieser regelmässige Austausch ein wichtiger Abschnitt auf unserem Weg war und für unsere neue Organisation eine relevante Starthilfe war und auch als Überdruckventil gedient hat.
Mir ist bewusst, dass meine Sicht auf die beschriebenen Geschehnisse einseitig und stark durch meine persönliche Wahrnehmung und Position geprägt sind. Daher gibt es bestimmt bei unseren Mitarbeitenden andere Empfindungen in Bezug auf diese Frust- und Resignationsspirale. Es wäre sehr spannend und ausgleichend auch einige dieser Sichtweisen lesen zu können (was eine nicht allzu versteckte Blog-Aufforderung an die Mitarbeitenden darstellen soll 😊).
Wie stand es um meine persönliche Stimmung als «Ex-Chef»? Darüber mehr ich im nächsten Beitrag.